Der Fokus aktueller Debatten auf rechte Kräfte erweckt den Anschein, es handle sich um den größeren Teil der Gesellschaft. Doch warum solidarisieren wir uns nicht mit Gegenbewegungen – als aktive Positionierung für Vielfalt?
Wenn Migration politisiert wird, polarisieren sich Gesellschaften.
Mit Politisierung meinen wir eine Zunahme öffentlicher Debatten und den Kampf um Resonanz, Deutungshoheit und Hegemonie. Polarisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Zuspitzung von Positionen und Haltungen in zwei Richtungen. Auf beiden Seiten geht es darum, gegen die jeweils „Anderen“, kollektiv handlungsfähig zu werden. Beiden Seiten geht es darum, zustimmungsfähige Ideen zu entwickeln, in welchen sich die Interessen möglichst vieler Menschen wiederfinden.
Ein großer Teil der Erfolge rechtsextremer und nationalistischer Bewegungen und Parteien lässt sich auf deren Behauptung zurückführen, Migration sei „die Mutter aller Probleme“. Diese Schlüsselstellung der Migration entsteht durch eine ganze Reihe von Mechanismen, auf die wir hier nicht eingehen können. Einer davon aber ist das Narrativ vom Kontrollverlust: Der Verlust über die Kontrolle der Grenzen, darüber, wer einen noch so kleinen Anteil vom Reichtum abbekommt, wer Ansprüche auf Teilhabe stellen kann.
Die Staatsgrenzen und die Menschen, die sie überschreiten, bilden sozusagen das letzte Reservat für kollektive Fiktionen der Kontrolle in einer global verschränkten und interdependenten Weltgesellschaft. Diese Fiktion ist nun unter anderem deshalb gefährlich, weil Migration kein einzelnes historisches Ereignis ist, sondern kontinuierlich stattfindet und gesellschaftliche Folgen hat: Migrant*innen und ihre Nachkommen sind früher oder später Teil einer nationalen Bevölkerung und viele von ihnen haben weiterhin Bezüge in ihre Herkunftsländer. Sie heiraten, reisen, schicken Geld, oder bekommen welches, verfolgen die Nachrichten und gehen wählen. Migration ist nie vollständig abgeschlossen und verändert nachhaltig die Zusammensetzung der Bevölkerung. Daher sprechen wir auch von postmigrantischen Gesellschaften.[1]
Die Mehrheit ist für Vielfalt. Warum untersuchen wir sie nicht?
Betrachten wir die medialen und politischen Debatten der jüngeren Vergangenheit, erweckt der Fokus auf das Erstarken rechter Kräfte den Anschein, es handle sich hierbei um den dominierenden, den größeren Teil der Gesellschaft. Der Eindruck entsteht, dass sich das rechte Lager zunehmend ausdehnt und die Gesellschaft einen Rechtsruck erleidet, obwohl es sich genaugenommen um eine grundlegende Umstrukturierung und Ausdifferenzierung rechter Kräfte handelt – nicht zwangsläufig um eine Zunahme.
Diese sich fortschreitend durchsetzende Wahrnehmung rechter Dominanz und einer vermeintlichen Verschiebung der Gesellschaft nach rechts ist im Grunde der eigentliche Erfolg rechter Diskurse. Damit einher geht die Fokussierung der gesellschaftlichen, der politischen und nicht zuletzt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit in Richtung rechte Bewegungen.
Auch wenn es wichtig ist, auf das Erstarken solcher Bewegungen zu reagieren sollte dabei nicht unterschätzt werden, was ihnen auf der anderen Seite eigentlich gegenüber steht: Die Tatsache, dass sich ein Großteil der Gesellschaft explizit und aktiv für Pluralität ausspricht, gegen Ungleichheit kämpft und sich gegen rechte Mobilisierung positioniert. Umso verwunderlicher erscheint es, dass Fragen wie die Folgenden selten gestellt werden:
Wer mobilisiert Bewegungen, die sich gegen Marginalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung aufstellen? Wer sind zum Beispiel die 55 Prozent der Bevölkerung, die sich laut der Umfrage des Institut für Demoskopie Allensbach seit dem Sommer der Migration ehrenamtlich in der Arbeit mit geflüchteten Menschen engagiert haben, was verbindet sie untereinander? Was bewegte beispielsweise die 65.000 Menschen, die unter dem Motto #wirsindmehr in Chemnitz auf die Straße gegangen sind? Was sind die Gemeinsamkeiten der #NoPegida Demonstrant*innen, die unermüdlich in zahlreichen Städten kontinuierlich Widerstand geleistet haben? Auf welcher Grundlage kämpften und kämpfen Marginalisierte gemeinsam mit großen Teilen der Mehrheitsbevölkerung für Ihre Rechte und was genau ist die Mehrheitsbevölkerung eigentlich? Für welche Art von Gesellschaft und Solidarität stehen diese Bewegungen?
Die Zivilgesellschaft ist heterogen und plural. Was verbindet sie im Kampf für Gleichheit?
Zweifellos handelt es sich bei den genannten Beispielen um Zusammenschlüsse von Menschen, deren Zusammenkommen keineswegs lediglich auf geteilten Erfahrungskontexten oder biografischen Vergleichbarkeiten beruhen kann. In immer pluraler und heterogener werdenden Gesellschaften verlieren Definitionen von Zugehörigkeit, die auf nationalen, ethnischen und religiösen Gemeinsamkeiten beruhen, zunehmend an Bedeutung.
Im Folgenden argumentieren wir, dass moderne plurale Gesellschaften neue Formen der Solidarität hervorbringen. Postmigrantische Allianzen sind ein wichtiger und zentraler Ausdruck dieser Form von Solidarität. Sie basieren, erstens, auf der Grundlage einer geteilten Haltung zur pluralen Demokratie und ihrem Gleichheitsgrundsatz und, zweitens, auf dem geteilten Erfahrungskontext von Pluralität, Hybridität und den damit einhergehenden Ungleichheiten in postmigrantischen Gesellschaften.
Postmigrantische Allianzen beruhen auf zwei Arten von Solidarität: auf der Haltung zur pluralen Demokratie und der Erfahrung, Teil einer pluralen Gesellschaft zu sein.
Die Idee der postmigrantischen Allianzen ist, dass unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteure in Folge einer Polarisierung der Gesamtgesellschaft näher zusammenrücken und auf der Basis ihrer Schnittstellen gemeinsam für Pluralität und gegen rechtspopulistische Positionen eintreten. Wir wollen nun der Frage nachgehen, inwiefern sich postmigrantische Allianzen als Formen der Solidarität beschreiben lassen, worin die Gemeinsamkeiten der Akteure bestehen können und wie sich ihr kollektives Handeln konzeptionell erklären lässt.
Lange Zeit galt die Arbeiter*innenbewegung, bzw. die Beziehung der Arbeitenden untereinander, als eine klassische Form der Solidarität, als „mechanische Solidarität“, wie der französische Soziologe Émil Durkheim (1977) sie bezeichnete.[1] Dabei handelt es sich um eine Binnen-Solidarität, die auf der sozialen Nähe beruht, also auf ähnlichen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Diese Form der Solidarität steht in Kontrast zur „organischen Solidarität“, die beispielsweise in den neueren sozialen Bewegungen wie der Frauenbewegung, der Umweltbewegung oder auch in den Kämpfen der Migration[3] eine bedeutende Rolle spielt: Organische Solidarität entsteht nicht zwangsläufig aus gleichen Lebensverhältnissen, sondern auf der Grundlage politischer Praktiken und Diskurse. Organische Solidarität beschreibt, wie kollektives Handeln auf einer höheren Aggregationsstufe des Sozialen (nämlich der Gesellschaft) funktioniert – anders nämlich als in kleinräumigen und auf face-to-face Interaktionen aufruhenden Formen von „Community“: über Normen, Diskurse und Vorstellungen von vermittelter Verbundenheit. Der Common Ground, der schließlich kollektives Handeln begünstigt, ist in der geteilten Empörung und Erfahrung gesamtgesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse zu suchen, die in Widerspruch und in Konflikt mit dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz, dem Versprechen der Gleichheit in pluralen Demokratien, stehen.[4]
Das normative Ziel als Korrektiv innerhalb heterogener Allianzen
Wir wollen nicht den Anschein erwecken, dass unterschiedliche Erfahrungen und Biografien innerhalb postmigrantischer Allianzen zu Gunsten einer geteilten politischen Idee gänzlich verschwinden oder irrelevant sind, im Gegenteil: Sowohl Machtverhältnisse als auch Marginalisierung spielen im gemeinschaftlichen Handeln eine kritische Rolle und sollten benannt und reflektiert werden. Kämpfe gegen Rassismus sind schon seit der abolitionistischen Bewegung durchzogen von gruppenbezogenen Ungleichheiten und den damit einhergehenden Asymmetrien der Beziehungen innerhalb solcher Allianzen.[5]
Demnach erscheint die Frage durchaus legitim, inwiefern die normative Grundierung politischen Handelns die Ungleichheiten innerhalb solcher – aus Allianzen bestehenden – Gefüge korrigieren kann. Kann also die normative Zielsetzung politischen Handelns von Männern und Frauen in der Frauenbewegung, von PoCs und Weißen in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und von einheimischen und migrantischen Teilen der Bevölkerung in postmigrantischen Gesellschaften die Unterschiede zwischen den Gruppen ausgleichen und damit gleichsam unwichtig werden lassen? Klar ist jedenfalls: Missstände lassen sich nicht oder nur schwer überwinden, wenn sich nur diejenigen zur Wehr setzen, die von ihnen betroffen sind. Askriptive Merkmale reichen auch in postmigrantischen Gesellschaften nicht aus, um Kollektivität zu schaffen und Widerstand gegen Ungleichbehandlung, Stigmatisierung und Diskriminierung zu leisten.
Die kollektive (Unrechts)erfahrung postmigrantischer Gesellschaften als Gemeinsamkeit
Daraus folgt aber nicht, dass die Erfahrungsdimension für das politische Handeln vollständig irrelevant werden muss. Für alle jene, die bereit sind, die postmigrantische Gesellschaft als gemeinsamen biografischen Erfahrungskontext zu begreifen, stellt sie eine gemeinsame Erfahrung bereit und dar. Pluralität und Migration und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Schieflagen wie Marginalisierung und Diskriminierung ermöglichen, eine Art „involvierte Solidarität“ [6] zu empfinden. Involviert, da diese realen Verhältnisse alle betreffen: Alle Mitglieder einer Gesellschaft sind von den Konsequenzen der Machtverhältnisse betroffen. Die Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit kann mit dieser Argumentation auf alle jene ausgeweitet werden, die gewillt sind, die „Erfahrung“ von Ungleichheit wahr- aber nicht hinzunehmen. Albert Camus[7], um nur ein Beispiel zu nennen, geht davon aus, dass Menschen in der Konfrontation mit dem Ungerechten zunächst in ihrem Erleben und ihrer Erschütterung darüber gänzlich und radikal alleine sind. Es spielt, so Camus, keine Rolle, ob es sich um erlebtes oder empfundenes Unrecht handelt. In der Empörung aber, im Streben nach Veränderung und im Drang, politisch handeln zu wollen, kann der Mensch zu Solidarität mit anderen, mit Gleichgesinnten gelangen:
„[Die Revolte] ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet: Ich empöre mich, also sind wir“ (Camus, 1951:21).
Postmigrantischer Widerstand kann postidentitär sein
In der Originalversion dieses Beitrags sind Fallbeispiele aufgeführt, entlang derer die genannten Argumente empirisch untersucht wurden. Darunter befinden sich der Junge Rat, eine Initiative des Maxim Gorki Theaters, das Aktivist*innen-Kollektiv Kanak Attak und der gemeinnützige Verein DeutschPlus. Die vergleichende Analyse dieser unterschiedlichen Initiativen zeigt, dass der Fokus auf eine geteilte Haltung und sogenannte Grundüberzeugungen die Konstruktion einer postidentitären Kollektivität ermöglicht. Im Widerstand gegen Rassismus, Ungleichheit und Diskriminierung kann Gemeinsamkeit entstehen, weil der Widerstand im Gegensatz zu individuellen Biografien zugänglich und anschlussfähig ist. Er ermöglicht es, sich Meinungen, Perspektiven und Haltungen anzueignen. Solche Haltungen können gelernt und angeeignet werden, Biografien nicht! Das Festschreiben von Menschen auf ihre jeweiligen Positionen als Mehrheitsgesellschaft oder als Teil diskriminierter Gruppen dagegen untergräbt einen solchen Common Ground. Auch wenn biografische Bezugspunkte zugunsten einer postidentitären und postmigrantischen Gemeinsamkeit in den Hintergrund treten müssen, so bleibt dennoch eine durchaus biografische Erfahrung einer ganzen Generation bestehen. Ihr Narrativ hält sich nicht mehr an der Fiktion einer homogenen Gesellschaft auf, sondern betrachtet Heterogenität, Hybridität und Pluralität als wegweisende Normalität.
Literatur
[1] Vgl. Durkheim, Émile (1977): Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[2] Hierzu weiterführend: Hondrich, Karl Otto/ Koch-Arzberger, Claudia (1992): Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Fischer.
[3] Als Kämpfe der Migration können aus einer historischen Perspektive diverse Praktiken und Politiken der Migration bezeichnen. Besonders in Form von sichtbaren Protesten z.B. als kollektive Aktionen werden „Kämpfe der Migration“ sichtbar. Sie zielen auf eine öffentliche Aufmerksamkeit und auf die Sichtbarwerung und Anerkennung als politische Subjekte (vgl. u. a. Ataç et al. 2015). Vgl. u.a. Bojadžijev, Manuela/ Karakayali, Serhat (2007): Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript Verlag, 203-210; Karakayali, Serhat (2008): Gespenster der Migration: Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: Transcript - Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis; Heck, Gerda, 2008, »Illegale Einwanderung«. Eine umkämpfte Konstruktion in Deutschland und den USA. Münster.
[4] Vgl. Foroutan, Naika (2018): Was will eine postmigrantische Gesellschaftsanalyse? Von migrationszentrierten Diskursen hin zum Erkennen von Gleichheitskonflikten in pluralen Demokratien. In: Naika Foroutan, Juliane Karakayali und Riem Spielhaus (Hg.): Postmigrantische Perspektiven: Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt am Main: Campus, S. 269-299.
[5] Siehe dazu Moritz Ege’s Studie zur „Afroamerikanophilie“: Ege, Moritz (2007): Schwarz werden: „Afroamerikanophilie“ in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld.
[6] Messerschmidt, Astrid, 2009, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt a. M.
[7] Camus, Albert, 1969, Der Mensch in der Revolte, Reinbek.
Dieser Beitrag erschien vorab auf heimatkunde.boell.de. Dies ist die gekürzte Version des Beitrags "Solidarität in postmigrantischen Allianzen: Die Suche nach dem Common Ground jenseits individueller Erfahrungskontexte", der zuerst erschien in: Foroutan, Naika/ Karakayali, Juliane/ Spielhaus, Riem (Hg.), 2018, Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt a. M, S. 237-252.